Dissonance

Blicke auf die Interpretationsgeschichte

Dreitägiges Symposium der HK Bern zur Interpretationsforschung
(2.-4. Oktober 2010)

Hanspeter Renggli

 

Hochschule der Künste Bern
Forschungsschwerpunkt Interpretation

 

«Musikforschung an der Hochschule der Künste Bern (HKB) ist interdisziplinär und praxisorientiert.» Mit dieser griffigen Formel führte das Vorwort ein in das dreitägige Symposium, das mehrere Forschungsprojekte der HKB präsentierte, partiell aber auch deren praktische Umsetzung erprobte. Im Symposium «Ein Blick zurück ins 19. Jahrhundert» wurde eine ganze Reihe von Blicken aus unterschiedlicher Perspektive zurückgeworfen. Das 19. Jahrhundert scheint gleich um die historische Ecke zu liegen, und ist doch noch so unentdeckt.

 

Insbesondere im Thementeil «Beethoven, Mahler und die Folgen», in dessen Zentrum Mahlers Retuschen an Beethovens 5. Symphonie standen, traten Forschungsergebnisse und deren Anwendung in direkten Kontakt. Matthias Arters Dokumentation und Interpretation von Tondokumenten zwischen 1910 und 1933 sowie Kai Köpps Studien zur Streicherpraxis im Orchester von Beethoven bis Mahler erhielten in der Einstudierung der Beethoven-Symphonie durch das Orchester der HKB unter der Leitung von Bruno Weil eine bemerkenswerte praktische Erfahrungswerkstatt. Mit Weil konnte die HKB einen echten Kenner der vielbeschworenen, aber noch selten erprobten «Romantisierung» des klassischen Repertoires im 19. Jahrhundert engagieren.

 

Forschungen zur Inszenierungspraxis an Pariser Opernbühnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigten unter anderem, wie sehr diese Perspektive erstaunlicherweise noch in ihren Anfängen steckt. Allein die wenigen, teils über komplexe Umwege gefundenen Antworten zur Darstellungspraxis (Laura Möckli, Anette Schaffer, Céline Frigau, Sigrid T’Hooft, Christine Pollerus, Anselm Gerhard) dokumentierten die Bedeutung der teils weit ab von den Partituren liegenden Recherche, ebenso aber auch einer ungeahnten Form der Quellenarbeit. Näher an der Praxis standen die Teilbereiche zur Klavierausbildung 1800-50, zur Didaktik (Edoardo Torbianelli, Suzanne Perrin-Goy/Alain Muller, Pierre Goy), zur akademischen Ausbildung (Yvonne Wasserloos, Guido Salvetti, Jeanne Roudet) und zur Philologie (Bianca Maria Antolini, Leonardo Miucci). In seinem Récital lieferte Torbianelli auf einem von André Moysan nachgebauten Erard-Flügel von 1803 mit Beethovens Waldstein-Sonate sowie Werken aus dem Umfeld des Pariser Conservatoire jedenfalls eine furiose Demonstration der bunten Klangwelt um 1800.

 

Die Auseinandersetzung mit Quellen und Theorien zur Klappentrompete von Anton Weidinger schliesslich basiert auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt der HKB (Leitung: Markus Würsch), in dessen  Rahmen auch Instrumente nachgebaut wurden. Jaroslav Roucek, Krisztián Kováts, Würsch und Konrad Burri interpretierten dabei nicht allein die historischen Quellen, sondern demonstrierten auch, in wie unterschiedliche Richtungen oft die Wünsche von Bläsern und Instrumentenbauern wiesen.

 

Eine gewisse Überfütterung liess sich an den drei Symposiums-Tagen nicht vermeiden. Darin und in der doch recht vagen Klammer von Interpretations-, Unterrichts- und Theaterpraxis des bekanntlich weitläufigen «19. Jahrhunderts» lag auch die Problematik des Symposiums. Dies führte zu jenen nicht ganz unbekannten Situationen, in denen die «interessierte Öffentlichkeit» sich gerade mal aus der Handvoll Referierender zusammensetzte. Um den Standard der Forschung an der HKB auf längere Sicht zu halten, bedarf es wohl vermehrter Auffächerung in der  Präsentation. Der Radius der Forschungsprojekte der HKB (in Zusammenarbeit mit der Sektion Bern der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft) und deren Resultate sind indessen nichts weniger als bemerkenswert.   

 

 

Dieser Artikel erschien in DISSONANCE 112, Dezember 2010, S. 61.

by moxi