Dissonance

Blutrote Betroffenheit

Alfons Karl Zwickers Oper «Der Tod und das Mädchen» am Theater St. Gallen (September bis November 2011)

Lisa D. Nolte

Über 30 000 Folter- und Todesopfer haben die 17 Jahre Pinochet-Diktatur (1973‒1990) in Chile nach offiziellen Angaben gefordert. Dass die Dunkelziffer um mehrere 10 000 Fälle höher liegt und viele Täter noch immer hohe Ämter in Staat und Militär bekleiden, mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Valech-Kommission zur Aufklärung der damaligen Geschehnisse in den Foltergefängnissen des Geheimdienstes erst über ein Jahrzehnt nach Beginn der Redemokratisierung des Landes einberufen wurde.

 

An diese Problematik knüpft die Handlung von Ariel Dorfmans Theaterstück Death and the Maiden von 1990 an, das die Vorlage für Alfons Karl Zwickers dritte Oper Der Tod und das Mädchen (Libretto: Daniel Fuchs) bildet, die am 17. September 2011 vom Theater St. Gallen zu ihrer Schweizer Erstaufführung gebracht wurde. Sie beginnt in derjenigen Nacht, in der der Menschenrechtsanwalt Gerardo Escobar (Andreas Scheibner), Mann des Folteropfers Paulina Salas (Frances Pappas), zum Vorsitzenden einer der Valech-Kommission vergleichbaren Einrichtung gewählt wird. Der Zufall will es, dass Gerardo an eben diesem Abend den Arzt Roberto Miranda (Hans-Jürgen Schöpflin) in das abgelegene Haus des Paares mitbringt, nicht ahnend, dass Paulina ihn an seiner Stimme als den Mann identifizieren würde, der sie in ihrer Gefangenschaft immer wieder vergewaltigt hat, während er «zu ihrer Beruhigung» Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen laufen liess. Aus diesem Figurendreieck entspinnt sich ein Kammerspiel um jene Grundfragen, die Paulinas Opferperspektive auf die chilenische Diktatur aufwirft: Wem kann sie noch trauen, wie innere Ruhe finden? Was hat ihren Peiniger zu seinen Taten getrieben? Bereut er sie?

 

Der Gefahr, das erlittene Unrecht empört empathisch in überbordende Emotionalität zu übersetzen, entgeht die St. Galler Inszenierung der 2010 im Festspielhaus Hellerau Dresden uraufgeführten Oper weitgehend. Erstes Bild ist eine Paulina, die mit schwarzer Augenbinde, die Hände hinter der Stuhllehne verschränkt, in ihrem kärglich möblierten Haus sitzt, das durch eine brüchige Konstruktion aus Planken und frei stehender Tür lediglich angedeutet wird (Bühne/Kostüm: Alexandra Burgstaller). Einfache Konstellationen wie diese genügen Regisseurin Nicola Raab, um die fundamentale Beklemmung ihrer Hauptfigur und andere situative Zwischentöne oder Charakterzüge direkt einsichtig zu machen. Einen neongrellen Kontrast zu solcher Sparsamkeit und Effizienz bildet der Fliessbandkommentar der Videoprojektionen (Videographie: David Haneke), die auf transparenter Leinwand Himmel und Meer hinter der Hauskonstruktion je nach Dramatik der Situation als Spiegelfläche mit blutrotem Sonnenuntergang oder graues Tosen erscheinen lassen.

 

Jenseits der Weiten von See und Horizont erstreckt sich – die räumlichen Gegebenheiten des Theaters wollten es so – das Sinfonieorchester St. Gallen (Musikalische Leitung: Jonathan Stockhammer), während der Chor des Theaters St. Gallen, stellvertretende Stimme der ungezählten stummen Opfer der Diktatur, im zum Massengrab werdenden Hohlraum unter der Bühne positioniert ist, sichtbar nur durch einen engen Spalt. Die Platznot wird aber in beiden Fällen zur musikszenischen Tugend, denn die Solisten treten so auch in den ausladenden Momenten der durchaus emotional aufgeladenen Musik Zwickers stets aus dem Orchesterklang hervor, und das leicht gedämpfte, entfernt wirkende Klangbild des Chores unterstreicht dessen Rolle als Vertreter gesichtsloser Massen. Auf die Aufführung der siebenten und letzten Szene musste die Inszenierung dann aber leider verzichten, da diese einen grossen Chor auf die Bühne vorsieht.

 

Der St. Galler Komponist Alfons Karl Zwicker (geb. 1952) macht keinen Hehl daraus, dass diese im geradezu traditionellen Sinne dem Innenleben ihrer Figuren nachspürende szenische Umsetzung seiner Oper durchaus seiner Ausdrucksästhetik entspricht: «Der Zuhörer soll durch das Erleben meiner Klangwelten in Betroffenheit, egal welche, geraten», wünscht er und lässt es, ganz dem Wesen Paulinas entsprechend, selbst in den reduziertesten und feingliedrigsten Passagen, stets brodeln unter der Oberfläche. Hier und da flackert an neuralgischen Punkten Schuberts Streichquartett Der Tod und das Mädchen aus dem Unterbewusstsein, aus der Vergangenheit in Fetzen hervor, jedoch immer nur als Idee, nie als plattes Zitat. Zwickers Musik könnte ohne weiteres in expressionistische Zeiten zurück gedacht werden. Wer bei einem Besuch von Der Tod und das Mädchen ein grenzgängerisches Musiktheater der Art erwartet, wie sie das letzte Jahrhundert zuhauf hervorgebracht hat, wird überrascht von einem Opernabend im klassischen Sinne. Hier wird nicht die Galerie zeitgenössischer Spieltechniken abgegrast, keine elektronische vierte Dimension eingeflochten. So kann sich das in Sachen zeitgenössische Musik nicht eben erprobte Sinfonieorchester St. Gallen – ebenso wie Solisten und Chor – ohne technische Hürden ganz auf die saftige Klangsprache Zwickers einlassen. Sicher, neue Horizonte werden hier weder kompositorisch noch interpretatorisch erschlossen. Doch wissen Musik und Umsetzende sehr genau um ihr Einzugsgebiet und versuchen zu keiner Zeit, daraus mehr zu machen, als sie können oder eben wollen.

 

Ein Mitschnitt der Schweizer Erstaufführung ist beim Label Musiques Suisses/Grammont Portrait erschienen (MGB CTS-M 133; 2 CDs).

 

Dieser Artikel erschien in dissonance 117, März 2012, S. 59-60. Die Ausgabe ist noch erhältlich und kann hier bestellt werden.

by moxi